Interview mit Klaus-Peter Weber vom Verein „In Würde alt werden e.V.“

Klaus-Peter Weber ist ausgebildeter Krankenpfleger und Facharzt für Chirurgie mit der Schwerpunktbezeichnung Unfallchirurgie. Außerdem leitet er die Interdisziplinäre Alterstraumatologie/Geriatrie im DRK Krankenaus Altenkirchen-Hachenburg.

medicalvalues: Sie haben den Verein „In Würde alt werden e.V.“ gegründet. Was bedeutet dieser Name für Sie?

Weber: Der Begriff „Würde“ verliert in unserer Gesellschaft gerade in Bezug auf die älteren Menschen zunehmend an Bedeutung. Wir leben in einer Welt, die immer höher, schneller, weiter will. Schnell geraten die hochbetagten Menschen, in unserer Gesellschaft, auf das Abstellgleis. Sie bremsen uns aus. In unserer Gesellschaft wird „die Endlichkeit“ ausgeblendet. Von pharmakologischer Seite oder medizinisch-technischer Seite suggeriert man den Menschen, dass man für alles eine Lösung hat und das Alt “easy” ist. Eine Entwicklung, der man dringend entgegensteuern muss. Deswegen haben wir den Verein gegründet. Wir wollen mit unseren Aktionen auf die Situation aufmerksam machen und Wege aufzeigen, wie man in Würde alt werden kann. Da schien uns der Name passend.

medicalvalues: Warum haben Sie den Verein gegründet? Können alte Menschen derzeit in Deutschland nicht würdevoll leben?

Weber: Doch, es gibt eine bestimmte Gruppe von Menschen, die derzeit in Deutschland würdevoll leben können. Die Anzahl derer, die das jedoch nicht mehr können, wächst stetig. So lange ein Mensch funktioniert, sich selbst versorgen kann und nicht auf Hilfe angewiesen ist, ist alles in Ordnung. Dann geschieht etwas Unvorhergesehenes. Ein Sturz, der zu einem Knochenbruch führt, eine schwere Erkrankung, ein einschneidendes Erlebnis etc.. Und schon läuft der Motor nicht mehr, wie er soll. Plötzlich benötigt man Hilfe. Die aktuellen Krankenhausstrukturen sind darauf ausgerichtet, den monetären Aspekt zu fokussieren. Daraus ergibt sich oftmals die sogenannte „blutige Entlassung“ und die allumfassende Frage der weiteren Versorgung. Der Pflegenotstand ist allgegenwärtig und die sich daraus ergebenden Versorgungsstrukturen sind überschaubar und entsprechen nicht den nedizinischen und fachlichen Ansprüchen. Angehörige sind berufstätig, Heime sind überfüllt und Krankenhäuser brauchen freie Bettenkapazitäten für lukrative Eingriffe. Wie soll da ein Leben in Würde möglich sein? Die „Alten“ werden abgeschoben.

medicalvalues: Sie bieten Unterstützung bei der Versorgung im Altenheim. Was fällt ihnen dabei auf?

Weber: Die Altenheime sind mit der Versorgung z.B. frisch operierter Patienten überfordert. Es kommen Fragen auf, wie z.B.: Ist mit der OP-Wunde alles in Ordnung? Darf der Patient aufstehen, auch wenn er noch Schmerzen hat? Wie bewege ich den Patienten richtig? Sind die Medikamente noch richtig? Aus Angst vor Fehlern werden die Patienten dann häufig wieder zurück ins Krankenhaus geschickt (der sog. Drehtüreffekt). Ein großer Teil dieser Probleme entsteht dadurch, dass die Pflegeheimstrukturen und die fachliche Expertise der Pflegenden bezüglich eines solchen Patientenklientel nicht ausreichen. Die heutigen Pflegeheime sind Dependenzen von Kliniken.

Die Hausärzte sind in der Regel Allgemeinmediziner und keine Experten in der chirurgisch-traumatologischen Versorgung. Die Zusammenarbeit mit Ihnen ist in den letzten Jahren intensiver geworden, da sich die Win-Win-Situation für alle Beteiligten immer deutlicher wird.

medicalvalues: Sie sind auch in Kuba sehr aktiv. Was fällt Ihnen im Vergleich zur geriatrischen Versorgung in Deutschland auf?

Weber: In Kuba ist man Meister der Improvisation. High-Tech Geräte sind Mangelware. Es werden andere Maßstäbe gesetzt. Man beschäftigt sich intensiver mit dem Patienten und dem Menschen, der dahinter steckt. Die älteren Menschen werden wertgeschätzt und haben ihren Platz inmitten der Gesellschaft und nicht am Rand.

medicalvalues: Sie konzentrieren sich besonders auf die Krankheiten Demenz, Depression und Sarkopenie, sowie Frakturen im Alter. Warum?

Weber: Durch meine langjährige Tätigkeit als Alterstraumatologe ist mir aufgefallen, dass die meisten Patienten zumindest eins dieser drei Krankheitsbilder haben. Wenn man ins Gespräch kommt, merkt man schnell, dass die Menschen viel Gepäck mit sich herumtragen. Sie liegen jetzt im Krankenhaus und kommen zum Nachdenken. Altlasten werden aufgearbeitet. Sie ziehen sich zurück. Sie wollen niemandem zur Last fallen. Die Depression ist eines der häufigsten Krankheitsbilder im Alter. 2030 wird sie die häufigste Erkrankung im Alter sein. Die Menschen gehen nicht mehr so oft vor die Tür. Es fehlt an Bewegung. Der Muskelabbau schreitet voran. Wenn man da nicht aufpasst, ist der nächste Sturz vorprogrammiert. Hier muss man ansetzen und die Menschen aus ihrem „Loch“ herausholen. Der dritte Punkt ist die Demenz. Ein Thema, über das man nicht gerne spricht. Hier muss man aufklären, den Menschen Wege aufzeigen, wie man mit einem dementen Patienten umgeht. Man muss die Angst davor verlieren und die Krankheit verstehen.

medicalvalues: Mulimorbidität, Polypharmazie und Gebrechlichkeit sind nur einige Phänomene, die alternde Menschen betreffen und die medizinische Versorgung erschweren. Was wünschen Sie sich von den behandelnden Ärzten?

Weber: Mehr Empathie im Umgang mit alteren Menschen in der Gewissheit, mittelfristig selbst der alternde Mensch mit allen damit verbundenen Gebrechen zu sein. Zeit ist der wichtigste Faktor in der Behandlung älterer Menschen, bedingt durch körperliche und kognitive Einschränkungen. Hier funktioniert die sogenannte „Bordellmedizin“ nicht. Soll heißen: Rein ins Krankenhaus, kurze Nummer und wieder raus. Hier schließe ich mich der Aussage eines älteren Kollegen an.

medicalvalues: Deutschland hat eines der hochentwickeltsten Gesundheitssysteme der Welt. Was muss passieren, damit alte Menschen hier würdevoll leben können?

Weber: Ja, wir sind ein hochentwickeltes Gesundheitssystem. Aber nur, wenn der Patient finanziell interessant ist und eine entsprechende Schnittmenge abbildet im Sinne einer Wichtigkeit des bestehenden medizinisch funktionalen Apparates (Krankenhausträger kaprizieren sich im Moment hierbei auf operative Eingriffe unterschiedlicher Fachbereiche, da diese im bestehenden Vergütungssystem am lukrativsten sind). Im Sinne eines Versorgungsauftrages eines Krankenhauses fallen hierbei leider die weniger lukrativen Abteilungen hinten runter, was dem Versorgungsauftrag widerspricht. Maßvolles Augenmerk auf Wirtschaftlichkeit, das wäre ein Anfang. Ältere Menschen brauchen eine Lobby, zumal sie hinter der Hand betriebswirtschaftlich als Totalschaden eingestuft werden.

medicalvalues: Mit welchen Maßnahmen sorgen Sie konkret dafür, ein würdevolles Altern zu ermöglichen.

Weber: Wir haben das Visitationsprojekt ISKA in den Pflegeheimen und schauen uns die Patienten vor Ort an, beantworten Fragen und checken die Wunden und Medikamente und stehen den Pflegekräften mit Rat und Tat zur Seite. Das erspart den Heimbewohnern häufig den Transport ins Krankenhaus. Wir sind Ansprechpartner, Berater und Brückenbauer. So einfache Dinge wie eine Hotline ermöglicht auf kurzem Wege Ansprechpartner für die Heime, Angehörigen und Hausärzte zu sein.

Weiterhin haben wir ein umfangreiches Netzwerk mit Experten aus den Bereichen Medizin und Pflege und Krankenkassen aufgebaut.

Mit unserem Musiktheater klären wir auf. Zunächst müssen die Menschen auf die Probleme aufmerksam gemacht werden. Wir möchten den Menschen Wege aufzeigen, was im Alter noch so alles möglich ist, z.B. durch unser Seniorensportprojekt. Wir wollen mit weiteren Projekten erreichen, dass die Senioren mehr ein Teil der Gesellschaft sind.

medicalvalues: Wie kann die Digitalisierung des Gesundheitssystems helfen, die geriatrische Versorgung zu verbessern?

Weber: Durch Digitalisierung mit z.B. einer App kann man geriatrische Assessments im Bereich Mobilität, Kognition und Gefühlslage erheben und so frühzeitig Veränderungen erkennen und dem entgegenwirken. Man kann durch Foto-/ Videoaufnahmen auch aus der Ferne Gangbilder beurteilen, Wunden begutachten und die Mobilisation beobachten. Die Digitalisierung ermöglicht eine schnellere und vereinfachte Kommunikation. Die Politik fordert eine sektorenübergreifende Verzahnung zwischen stationärer und ambulanter Behandlung. Da leisten wir schon seit Jahren basisnahe Arbeit und die Anfragen von Pflegeheimen nehmen stetig zu. Da ist das Medium der KI eine wunderbare Ergänzung.

medicalvalues: Was wünschen Sie sich später einmal für Ihr eigenes Altern?

Weber: Würdevoll und mit Respekt behandelt zu werden. Aktiv zu bleiben und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.

medicalvalues: Wie gut stehen die Chancen, dass ihre Wünsche in Erfüllung gehen ?

Weber: Wenn wir es schaffen, die Gesellschaft zu erreichen und zu sensibilisieren, dann haben wir gute Chancen, in Würde alt zu werden. Hier ist aber auch die Politik in der Verantwortung. Was mich besonders hoffnungsvoll stimmt, ist, dass die junge Generation das jetzige System genau analysiert und viele Verbesserungsvorschläge entwickelt.

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